Prägung als „Third culture kid“
Meine Eltern beschlossen Anfang der 1980-er den großen Schritt zu wagen, mit der evangelischen Mission nach Tansania auszuwandern. Sie landeten in Morogoro, einer größeren Stadt mit damals rund 100.000 Einwohnern. Mein Vater arbeitete als evangelischer Pfarrer im Schul- und Gemeindedienst und nahm Recherchen für seine Doktorarbeit auf.
Wir drei Kinder wurden alle in Morogoro geboren und ich verbrachte meine ersten 5 Lebensjahre dort. Diese Erfahrung hat mich geprägt und ich wollte das Thema hier im Blog aufgreifen. Dabei bin ich über den Begriff des „Third culture kid“ oder „Drittkulturkind“ gestolpert, der mir lange nicht bekannt war und doch irgendwie treffend ist für das, was ich in mir selber sehe.
„Als Third Culture Kids (TCKs) oder Drittkulturkinder werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind als ihre Eltern oder während ihrer Kindheit und Jugend oft umgezogen sind und dabei die Kultur gewechselt haben. Dadurch weisen sie besondere Charaktermerkmale und bestimmte Prägungen auf.“
Wikipedia 2020
Der Eintrag über TCKs der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) beschreibt dazu eine Prägung der Kinder und Jugendlichen durch häufige Ortswechsel, ein Leben außerhalb des Herkunftslandes und die Notwendigkeit, über kulturelle Grenzen hinweg kommunizieren zu müssen. Das beeinflusst die Identitätsfindung, denn einerseits können die Kinder und Jugendlichen viel entdecken, andererseits erleben sie schmerzhafte Verluste.
Genau diese Erfahrung habe ich in Tansania gemacht. Ich kannte das Leben in Deutschland erstmal gar nicht, denn ich war in Morogoro geboren. Meine Lebenswelt war die dortige. Durch unsere Rückkehr 1989 musste ich mich dann erstmal an die deutschen Verhältnisse gewöhnen und anpassen, die zwar mein Herkunftsland, aber total fremd für mich waren. Diesem ersten Lebensabschnitt mit der Besonderheit als Missionarskind aufzuwachsen und meine Erfahrungen widme ich einen extra Blogeintrag (siehe „Aufwachsen als Missionarskind“).
Drittkulturkinder stehen zwischen der Kultur der Eltern, der Kultur der Lebenswelt, in der sie gelandet sind und „basteln“ sich eine Drittkultur mit Elementen aus beiden Kulturen. Daraus entsteht auch das Dilemma, dass sie sich verschiedenen Kulturen verbunden fühlen, sich aber häufig mit keiner wirklich identifizieren können.
Faktoren für die Prägung als Drittkulturkind
Wie lange der Zeitraum wenigstens sein muss, den ein Kind oder Jugendlicher in einer anderen Kultur aufwächst und die Prägungen eines Drittkulturkindes erlangt, ist nicht definiert. Verschiedene Faktoren wie Alter, Ort, Entwicklungsphase, Erziehung, Schule und weitere beeinflussen das Maß der Prägung.
Ein wesentlicher Punkt ist sicherlich auch der Wille, sich auf die Kultur des Ziellandes einzulassen. Dadurch wird maßgeblich die Prägung beeinflusst. Isoliert man sich in einer sogenannten gated community im Zielland und lebt hauptsächlich die Kultur der Eltern, prägt das natürlich anders, als wenn man in vollem Umfang am Leben in der vorherrschenden Kultur teilnimmt. Ein großes Thema für Drittkulturkinder ist damit die Integration einerseits in die Kultur des Ziellandes, andererseits in die Kultur der Eltern.
Zunächst könnte man auch meinen, dass ein Kulturwechsel innerhalb der westlichen, christlich geprägten Welt, beispielsweise zwischen Deutschland und Großbritannien oder Frankreich und Italien, einen geringeren Kulturunterschied darstellt und somit der „Kulturschock“ für die third culture kids nicht so prägnant ist. Ein konträres Beispiel wäre eben der Umzug aus einer westlichen Kultur in eine afrikanische oder asiatische, wo sogar das Aussehen sich deutlich unterscheidet. Dies wird in der Forschung nicht weiter bestätigt, denn auch im westlich-christlich geprägten Kulturraum gibt es regional kulturelle Unterschiede.
Auch hier kann ich von meinen Erfahrungen berichten. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland sind wir innerhalb Bayerns noch ein paar Mal umgezogen. Es zeigte sich, dass die regionalen Unterschiede zwischen Mittelfranken, Unterfranken, Oberbayern und zuletzt Schwaben im kulturellen Bereich teilweise zu kleineren „Kulturschocks“ bei mir geführt haben. Da fühlte ich mich als Deutsche wie eine Exotin mit meinem anderen Dialekt und den mir bis dahin vertrauten Traditionen und Bräuchen.
Sicherlich ein weiterer Faktor für meinen „exotischen Status“ war der eine Pfarrerstochter zu sein. Ich habe dazu einen Blogartikel „Schublade Pfarrerstochter“ geschrieben.
Charaktereigenschaften eines Third Culture Kid
Einerseits führen die Erfahrungen als third culture kid zur Ausbildung wichtiger Social Skills wie ein hohes Maß an interkulturellem Verständnis und Anpassungsfähigkeit, Mehrsprachigkeit und Toleranz gegenüber Vielfalt. TCKs sind gern gesehene Führungsfiguren in multinationalen Konzernen oder in Positionen mit interkultureller Kommunikation.
Andererseits führt die oft empfundene Wurzellosigkeit und erschwerte Identitätsfindung auch zu Unsicherheit, Rastlosigkeit, Fernweh bis hin zu Problemen im Aufbau fester sozialer Bindungen. Drittkulturkinder haben teilweise sehr damit zu kämpfen, dass sie die Frage „woher kommst Du?“ nicht eindeutig beantworten können.
Ich bin in Morogoro in engem Kontakt zu Land und Leuten aufgewachsen, war im Kindergarten und konnte Suaheli (Landessprache). Meine Eltern waren sehr daran interessiert, dass wir nicht isoliert in einer deutschen Community aufwachsen, sondern uns integrieren und mit der anderen Kultur vertraut machen.
Denke ich zurück an die Zeit in Tansania, welches leider insgesamt recht graue Erinnerungen mittlerweile sind, kann ich mich nicht an das Gefühl erinnern, anders zu sein oder nicht dazuzugehören. Dieses Gefühl entstand erst bei unserer Rückkehr nach Deutschland, einem echten Kulturschock.
Zurück in Deutschland versuchten meine Eltern uns wiederum die Integration zu vereinfachen, in dem die Kulturteile aus Tansania im Wesentlichen ausgespart wurden und nur noch deutsch gesprochen wurde, deutsch gegessen, deutsche Freuden und Familie aufgesucht wurden. Das vereinfachte das Anpassen an die deutsche Kultur für uns Kinder, sehr.
Dennoch kam in all den Jahren immer mal wieder das Bedürfnis hoch, auch die andere Kultur aus meiner Kindheit aufzugreifen. Ich höre Musik aus Tansania, machte einen Suaheli-Sprachkurs, koche tansanisch, habe ein Eck in unserem Wohnzimmer mit tansanischer Kunst und Erinnerungen ausgestattet. Es gehört eben zu meiner Identität.
Einige der beschriebenen Charaktereigenschaften von Drittkulturkindern würde ich auch mir zuschreiben und auch die Gefühlswelten kann ich zum großen Teil nachvollziehen. In meinem Blogartikel „Heimat – so nah und doch so fern“ möchte ich genau die Frage aufgreifen, die für mich so schwierig zu beantworten ist: woher kommst Du?
Steigende Zahl von Third Culture Kids
Drittkulturkinder waren klassischerweise Kinder von Missionaren, Diplomaten, entsandten Mitarbeitern globaler Unternehmen, Entwicklungshelfern, Lehrern, Vertretern noch NGOs, Medienvertretern oder Angehörigen des Militärs. Mittlerweile erhoffen sich jedoch viele Menschen in einem anderem Land bessere Verdienstmöglichkeiten, Aufstiegschancen, neue Herausforderungen, bessere Lebensbedingungen, ein Leben in einer besonderen Landschaft und passenden Wetterbedingungen oder Prestige. Interkulturelle Beziehungen und Ehen, Migration und eine steigende Mobilität sind weitere Faktoren für den Anstieg von third culture kids.
„Die Welt verändert sich fortwährend […]. Es ist daher anzunehmen, dass die Zahl der Menschen wächst, die die Erfahrung teilen, ständig entwurzelt zu werden, Menschen kommen und gehen zu sehen, Menschen aus vielen Kulturen zu treffen und sich wieder von ihnen verabschieden zu müssen und nicht zu wissen, wann und wohin sie als nächstes gehen sollen.“
BPB 2018
Im Jahr 2020 wanderten rund 240.000 Menschen aus Deutschland aus. Beliebteste Zielorte sind die Schweiz, USA und Österreich. Große Gruppen bilden die Menschen die zum Studium auswandern, Menschen um die 30, die für die Karriere ins Ausland gehen und Pensionäre. Gerade die Gruppe der Auswanderer zwischen 25 bis 40 gründen ihre Familien im Ausland.
Third culture kids unterscheiden sich insofern von anderen interkulturelle Kindern (cross-culture kids), dass sie typischerweise die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern behalten und in das Land und die Kultur ihrer Eltern nach einem gewissen Zeitraum zurückkehren. TCKs werden auch als versteckte Immigranten bezeichnet. Sie können sich gut an verschiedene Kulturen anpassen und ihnen zugehörig fühlen. Oft fühlen sie sich aber selbst in den Ländern ihrer Pässe als Außenseiter.
Zeige ich meinen Ausweis hier in Deutschland, steht mein Geburtsort drin: Morogoro. Was ich damit bereits alles erlebt habe und welche Reaktionen dieser Ort hervorruft bei anderen Menschen, erzähle ich in meinem Blogartikel „Wo bist Du geboren? Warum?“. Über die Jahre habe ich mich innerlich auf alle Reaktionen eingestellt, denn da war alles dabei und wirklich keiner kann meinen Geburtsort umkommentiert lassen.
Weiterlesen im Thema
Kay Branaman Eakin (2001): According to my passport, I’am coming home. DIANE Publishing.
Marilyn R. Gardner: Communications across boundaries. Blogs for TCKs & their families. https://communicatingacrossboundariesblog.com/tck-resources/blogs/
Anastasia Aldelina Lijadi (2018): Bundeszentrale für politische Bildung: Weltbürger oder irgendwo dazwischen?, https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/278957/third-culture-kids
Antonia Morris (2020): Chatterblog: Growing up as a third culture kid; https://blog.chatterbug.com/en/third-culture-kid/
David E. Pollock, Ruth van Reken, Georg Pflüger (2003): Third culture kids – Aufwachsen in mehreren Kulturen. Francke-Buch GmbH.
Wikipedia (2020): Third culture kids., https://de.wikipedia.org/wiki/Third_Culture_Kid
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